Fotografieren lernen, sehen lernen – Teil 1

Die Kamera sieht die Welt anders als wir

Warum ein Bild nicht dem entspricht, was Ihr eigentlich wolltet hat viele Gründe. Ein Grund, der den meisten sofort einfällt ist die Technik, die Kamera ist schlecht, wurde falsch bedient, kann das einfach nicht oder ist gar kaputt. Doch das ist nur ein Grund und nicht einmal der Hauptgrund, denn selbst eni technisch perfektes Bild, einer sündhaft teuren Profikamera kann bei optimalen Lichtverhältnissen einfach nicht das wiederspiegeln, was Ihr Euch vorgestellt habt!

Ein häufig unterschätzter Punkt ist die Art wie Eure Kamera im Unterschied zu Euch die Welt überhaupt sieht! Dabei spielt es nicht einmal eine große Rolle, ob Ihr Euch eines Profimodells oder eines Smartphones bedient, ob Ihr die Kamera manuell einstellt oder eine Vollautomatik die Arbeit machen lässt. Es gibt grundlegende Unterschiede in der Art wie das Bild vor Eurem geistigen Auge – also in der Regel das Bild, das Ihr gerne machen wollt – im Vergleich zu dem Bild, welches Eure Kamera aufzeichnet, entseht. In diesem Artikel möchte ich Euch ein paar dieser Unterschiede einmal vorstellen.


Das menschliche Gesichtsfeld oder Sichtfeld

Der Mensch hat ein ungefähres Sichtfeld von ca. 180° – 200°. Wie weit dieser Sichtwinkel ist, könnt ihr einfach austesten, indem Ihr gerade aus schaut, Eure Arme gerade, seitlich ausstreckt und diese dann gleichmäßig, langsam nach hinten bewegt bis ihr sie nicht mehr sehen könnt, ohne den Kopf zu bewegen. Dieses Sichtfeld erweitern wir dann noch dadurch, dass wir in unserer normalen Umwelt den Kopf bewegen können und so einen recht großen Sichtradius erreichen.

Das Sichtfeld einer Kamera hingegen ist abhängig von der Wahl des Objektivs oder besser gesagt, von der Wahl der Brennweite und vom Cropfaktor der Kamera, anders als Ihr kann eine Kamera ihr Sichtfeld erweitern und auch einschränken, das bezeichnet man als rein- oder rauszoomen.


Farbiges Sehen

Wir sind es unsere Netzhautlk-polarpUmwelt farbig zu sehen und nehmen in der Regel an, dass wir dies auch immer und über unser gesamtes Sichtfeld auch tun.

Doch dem ist nicht so, tatsächlich ist unsere Farbwahrnehmung stark eingeschränkt. In den äußeren Bereichen unseres Sichtfeldes sehen wir im Grunde gar keine Farben, dieser Bereich ist eher für das Sehen von Bewegungen da. Hier befinden sich spezielle Rezeptoren auf der Netzhaut, die dem Gehirn melden, ob sich in unserem äußeren Sichtfeld etwas bewegt, damit wir notfalls auf die Bewegung entsprechend reagieren können. Reaktionen können beispielsweise „Hinsehen“ – also den Kopf in die Richtung der Bewegung drehen – oder auch „Ausweichen“ – also reflexartikes Ducken sein.

Tatsächlich sehen wir nur in einem Bereich von etwa 70° ein wirklich farbiges Bild, weil nur dort alle drei Farbrezeptoren unseres Auges auch wirklich Farbinformationen aufnehmen und nur wenn alle drei Grundfarben gesehen werden, kann das Gehirn daraus die richtige Farbe mischen. In Sichtiwinkel, die ausserhalb dieses Bereichs liegen, sehen wir nur einen Teil der vorhanden Farben. (siehe Grafik)

Das farbige Sehen baut sich also langsam von außen nach innen auf. Diese Feinheit nehmen wir in unserem täglichen Leben allerdings nicht direkt wahr, weil wir es gewohnt sind und nur innerhalb unseres zentralen Gesichtsfeldes tatsächlich unser normales Sehen stattfindet.

Bei Eurer Kamera ist das allerdings anders, denn der Sensor empfängt über den gesamten, durch das Objektiv sichtbaren Teil alle Farben und stellt daraus ein Bild zusammen.


Dreidimensionales und scharfes Sehen

Sehen lernen, Fotografieren lernen, Fotokurs, Bremen, FotoschuleHinzu kommt  noch, dass wir als Menschen mit einem Augenpaar sehen und unsere Art zu sehen auf ein dreidimensionales Sehen ausgerichtet ist. Dieses dreidimensionale Sehen erreichen wir jedoch nur dort, wo sich die beiden Sichtfelder unserer Augen überschneiden und nicht über unser gesamtes Sichtfeld.

Dieser Bereich ist unser zentrales Sichtfeld, also das Sichtfeld in dem Ihr alle es gewohnt seid Eure Umwelt optisch bewusst wahrzunehmen, die äußeren Sichtbereiche nehmen wir nicht bewusst, sondern eher unbewusst wahr. Sie sind von untergeordneter Bedeutung, dienen eher einer Art Orientierung oder Kontrolle der Umwelt.

Um es einfach auszudrücken, natürlich bekommt ihr es mit, wenn seitlich von Euch ein Bär aus einem Gebüsch rennt, um Euch zu jagen, aber wenn seitlich von Euch einfach nur ein Gebüsch ist und nichts passiert, dann werdet Ihr Euch später auch nicht mehr daran erinnern, ob da ein Gebüsch war und schon gar nicht an Details. Wir brauchen unser äußeres Sichtfeld, aber nicht für unsere Bewusste Wahrnehmung und um die geht es ja, wenn Ihr etwas so fotografieren wollt, wir Ihr es „gesehen“ habt.

Das Objektiv Eurer Kamera kann diesen Sichtwinkel über die gewählte Brennweite variieren, Ihr könnt das nicht wirklich, aus diesem Grund empfinden wir Bilder, die mit einer sogenannten Normalbrennweite mit einem Sichtwinkel von ca. 46,7° fotografiert wurden, als natürliche Darstellung einer Situation, denn dieser Sichtwinkel zeigt in etwa das, was wir als normales Sehen empfinden. Jede Brennweite über- oder unterhalb der Normalbrennweite verändert diesen Sichtwinkel und produziert so ein anderes Bild, als das was wir normalerweise sehen würden. In meinem Blogartikel zum Thema Objektive erfahrt Ihr mehr zu den Brennweiten von Objektiven.

Desweiteren hat das menschliche Auge nur einen einzigen Scharfenpunkt auf der Netzhaut, also nur einen kleinen Bereich in dem wir wirklich ein scharfes Bild fokussieren können. Dieser scharfe Punkt befindet sich mittig in unserem Auge.

Auch das könnt ihr leicht testen, konzentriert Euch auf einen beliebigen Gegenstand, eine Person oder einen Punkt im Raum, schaut konzentriert auf diesen Punkt und Euch wird auffallen, dass alles ausserhalb dieses Punktes „unscharf“ wird, es liegt ausserhalb des Fokus‘.

So verhält es sich im Grunde auch bei Eurer Kamera, denn auch Eure Kamera kann nur auf einen bestimmten Bereich im Bild fokussieren, nur an diesem Punkt wird das Bild zu 100 Prozent scharf, ausserhalb dieses Punktes entscheidet die Schärfentiefe oder auch Tiefenschärfe darüber, was eventuell außerdem noch scharf dargestellt wird.


Ein Blick, ein Bild?

In der Regel fotografieren wir mit dem Anspruch das zu fotografieren, was wir gesehen haben und oftmals werden wir enttäuscht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass dieser Anspruch nicht nur schwer umzusetzen, sondern häufig ohne entsprechende Nachbearbeitung gar nicht umsetzbar ist.

Eure Kamere mit mit dem Drücken auf den Auslöser ein Foto, dieses Foto hat eine technische Einstellung für Werte wie Belichtungszeit, Blende und Lichtempfindlichkeit. Das Bild vor Eurem geistigen Auge besteht jedoch aus hunderten von Einzelbildern, die Ihr in kürzester Zeit gemacht habt, unser Gehirn setzt aus diesen Bildern dann ein Erinnerungsbild zusammen und genau dieses Bild wollt Ihr gerne fotografieren, aber mit nur einem Foto.

Das menschliche Bewusstsein verarbeitet pro Sekunde 24 Bilder, Ihr seht also die Welt mit 24 Bildern pro Sekunde oder anders ausgedrückt mit 1/24 Sekunde „Belichtungszeit“, ab 18 Bildern pro Sekunde sehen wir erste Bewegungsunschärfen. Schnellfiegende Insekten sehen hingegen bis zu 300 Bilder pro Sekunden, einfache Stubenfleigen sehen 250 Bilder pro Sekunde, sie sehen unsere Welt in Zeitlupe!

Wenn Ihr Euch also 10 Sekunden auf einem Marktplatz umschaut, Euch die Menschen anseht, den Boden, den blauen Himmel, die einzelnen Häuser, den Brunnen in der Mitte des Platzes und die Straßenmusikanten, die vor dem kleinen Restaurant auf der linken Seite spielen, dann habt ihr in diesen 10 Sekunden 240 einzelne „Bilder“ gemacht und immer wenn Ihr Euch auf einen neuen Bereich konzentriert habt, dann habt ihr mit Eurem Auge auch genau auf diesen Bereich fokussiert. Eurer Bewusstsein bastelt daraus jetzt das Bild, an welches Ihr Euch immer erinnern werdet, wenn ihr an diesen Marktplatz denkt.

Dieses Bild wird an verschiedenen Punkten scharf sein, auch wenn das eigentlich nicht stimmt. Eure Kamera kann dieses Bild aber nicht einfach dadurch erreichen, dass Ihr auf einen Auslöser drückt, nicht in einem manuellen Programm und am wenigsten in einem Automatikprogramm, denn die Kamera kann Eure Gedanken nicht lesen.

Hinzu kommt noch, dass Eure Kamera in der Regel nicht mit einer 1/24 Sekunde Belichtungszeit arbeiten wird. Ihre Spielwiese an Belichtungszeiten ist deutlich größer und kann an die Begebenheiten angepasst werden, entweder macht das die Automatik Eurer Kamera oder ihr selbst macht das, aber auch wenn ihr selbst die Belichtungszeit einstellt, die wenigsten Motive des Alltags fotografieren wir mit 1/24 Sekunde Belichtungszeit, schon gar nicht ohne Stativ! (siehe „Die Handaulösegrenze“)


Ein Bild, eine Blendeneinstellung! Haben wir das auch so gesehen?

Wie gesagt, Eure Kamera macht für ein Bild immer auch eine technische Einstellung, dazu gehört auch die Blendeneinstellung, welche Einfluss auf die Tiefenschärfe Eures Bildes hat, also darauf wo das Bild ausserhalb des Fokuspunktes noch scharf ist.

Die Blende Eurer Kamera ist der Iris Eures Auges nachempfunden und lässt sich recht gut damit vergleichen. Sie ist im Objektiv eingebaut und kann geöffnet und geschlossen werden. Doch während Eure Kamera die Belichtungszeit und die Blende verändern kann, könnt ihr nur Eure „Blende“ verändern, um Euch beispielsweise an Lichtverhältnisse anzupassen! Die Belichtungszeit Eures Bewusstseins könnt ihr nicht steuern, ihr seht die Welt immer mit der gleichen Belichtungszeit.

Während Ihr Euch besagten Marktplatz angeschaut habt, gab es helle und dunklere Flächen, der blaue Himmel, der Boden, die Häuser, Schatten, usw. und jedes Mal hat sich Euer Auge an die Lichtverhältnisse angepasst. Bei hellen Flächen war die Iris ganz weit geschlossen, bei dunklen ganz weit geöffnet. Eure 240 Bilder bestehen also aus unterschiedlichen Blendenstufen und Anpassungen an die Lichtverhältnisse. Das eine Erinnerungsbild besteht also aus 240 vollkommen unterschiedlichen Blickwinkeln und ausgeglichenen Lichtverhältnissen. Doch Eure Kamera kann nur ein Bild, mit einer Blende und einer Belichtungszeit darstellen, eine technische Einstellung und genau hier besteht eine technische Diskrepanz zwischen dem was wir glauben gesehen zu haben und dem was wir technisch fotografieren können.


Ein Bild wird nicht aufgenommen, es wird gemacht! (Ansel Adams, Landschaftsfotograf)

Aus diesen genannten Gründen ist eine Bildentwicklung oder Bildbearbeitung ein unabdingbares, wenn auch manchmal ungeliebtes Muss in der Fotografie, noch nie in der Geschichte der Fotografie hat es ein vollkommen unbearbeitetes Bild gegeben, ein Foto kann seinem hohen Anspruch nur genügen, wenn Ihr ihm die Möglichkeit dazu gebt.

Und dazu gehören Beachtung des Bildausschnittes, des Bildaufbaus, des gewählten Blickwinkels und der Inhalte und auch die entsprechende Nachbearbeitung und Korrektur technischer „Unzulänglichkeiten“, die in der Regel nicht zu vermeiden sind, weil eine Kamera eine Maschine, ein Werkzeug ist und bleibt. Mehr zum Thema Bildbearbeitung in meinem Blogartikel „Bildbearbeitung, ein zwingendes Muss in der Fotografie!